Vortrag von Suzanne Bohn zum Weltfrauentag über Nobelpreisträgerin Annie Ernaux

Anschaulich erzählte Suzanne Bohn in der Kunstgalerie am Büchnerhaus über Annie Ernaux. Foto: Stadt Riedstadt

„Tief bewegend und sehr ehrlich“

RIEDSTADT – Wie kann das denn sein: Da gewinnt mit Annie Ernaux im Jahr 2022 zum ersten Mal eine Französin den Literatur-Nobelpreis, im Übrigen erst als 17. Frau von 119 Literatur-Nobelpreisträgern seit 1901 – und die stolze „Grande Nation‘“ reagiert in weiten Teilen eben nicht stolzgeschwellt. „In wenigen Tagen begann in Frankreich eine gehässige Kampagne, eine Demontage und Diskriminierung, wie es noch kein französischer Nobelpreisträger je erlebt hat“, berichtete Suzanne Bohn am Mittwochabend in der Kunstgalerie am Büchnerhaus.

Das hatte mehrere Gründe auf verschiedenen Ebenen, wie Bohn im Laufe des Abends ausführte. Die Gehässigkeit lag aber auch daran, dass eine Feministin – noch dazu aus der Arbeiterklasse stammend – die höchsten literarischen Weihen erhalten sollte. „Die Franzosen gelten als große Anbeter der Frauen – aber nur bis zu dem Moment, wo Frauen den Männern den ersten Platz streitig machen“, so Bohn.

Schon mit diesen einleitenden Worten wurde deutlich, wie passend das Sujet ihres Vortrags gewählt war. Denn auf Einladung des Kulturbüros und der Riedstädter Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten Jennifer Muth war die Vortragskünstlerin zum Weltfrauentag am 8. März mit ihrem eigens für die Büchnerstadt ausgearbeiteten Vortrag über Annie Ernaux nach Riedstadt gekommen.

Seit über 20 Jahren ist Bohn, Tochter einer Französin und eines Deutschen, gern gesehener Gast zum Weltfrauentag und stellt in kurzweiligen und mitreißenden Vorträgen bekannte und hierzulande auch nicht so bekannte Französinnen vor. Die Frauenbeauftragte Muth erinnerte in ihrer Begrüßung daran, dass der Vortrag Bohns zum Weltfrauentag 2020 der letzte vor dem Lockdown war. In den letzten beiden Jahren musste er dann wegen der geltenden Abstands- und Hygieneregeln in große Hallen verlegt werden und kehrte nun zur Freude aller Beteiligten erstmals wieder in die restlos ausverkaufte Kunstgalerie am Büchnerhaus zurück.

Die 82jährige Annie Ernaux, die als eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart gilt, entstammt der Arbeiterklasse und schaffte als exzellente Schülerin über Bildung den gesellschaftlichen Aufstieg – ohne doch jemals wirklich zur Bourgeoisie dazuzugehören. In ihren autobiografisch geprägten Romanen schildert sie betont nüchtern elementare Themen wie die Entfremdung zu ihren Eltern und die damit verbundene Scham darüber, eine traumatische Abtreibung oder die demütigende Affäre mit einen verheirateten Diplomaten. Die Scham steht im Zentrum des Lebens und des Werks der Schriftstellerin, erklärte Bohn. „Ernaux spricht aus, was man normalerweise für sich behalten würde“, sagte sie und betonte: „Sie gibt ihre Emotionen nie preis, aber man spürt die Tränen dahinter.“

In der Begründung des Nobelpreiskomitees heißt es denn auch, Ernaux erhalte die Auszeichnung „für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt.“ Genau dieser Stil wurde ihr dann in Frankreich nach Bekanntgabe der Nobelpreiskomitee-Entscheidung auf unsachlichste Weise vorgeworfen, so Bohn und zitierte Beispiele wie „neurotische Beschäftigung mit sich selbst“, „armseliger Stil“ und „Verneinung des französischen Esprits.“

Zitate, die beim Publikum für fassungsloses Staunen sorgten. Fanden die vielen Frauen – und einige wenige Männer – es doch viel nachvollziehbarer, was Bohn über den Roman „Eine Frau“ sagte und was so auch für ihr übriges Werk gilt: „Es ist ein tief bewegendes, wie immer sehr ehrliches Buch.“

(PS)

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